JOCHEN ROBES ÜBER BILDUNG, LERNEN UND TRENDS

Grotlüschen, A., Pätzold, H.: Lerntheorien: in der Erwachsenen- und Weiterbildung (2020)

Warum mich das Buch interessiert hat?

Wer ein mediendidaktisches Handbuch in die Hand nimmt und das Kapitel „Lerntheorien“ aufschlägt, findet dort in der Regel einige Seiten über den Behaviorismus, den Kognitivismus und den Konstruktivismus. Seit 20 Jahren. That’s it. Als ich jetzt nach einem Blick ins Inhaltsverzeichnis des Buches „Lerntheorien“ sah, dass die zwölf Kapiteltitel ohne eine Aufzählung der üblichen Verdächtigen auskamen, bin ich neugierig geworden.


Grotlüschen, A., Pätzold, H. (2020): Lerntheorien: in der Erwachsenen- und Weiterbildung. Bielefeld: wbv Publikation, 142 Seiten


An wen richtet sich das Buch?

Das Buch richtet sich vor allem an Studierende, die mit Themen der Erwachsenen- und Weiterbildung zu tun haben, und ist als klassisches Lehrbuch konzipiert: 142 Seiten mit Beispielen, Merksätzen, Übungsaufgaben und kommentierten Literaturhinweisen. Es will vor allem einen Überblick vermitteln. Durch seine Aufnahme in die Reihe „Erwachsenen- und Weiterbildung“ spricht es aber alle an, die in diesem Feld unterwegs sind.

Wer hat das Buch geschrieben?

Anke Grotlüschen ist Professorin für Erwachsenenbildung an der Universität Hamburg (Fakultät für Erziehungswissenschaft, Fachbereich Berufliche Bildung und Lebenslanges Lernen). Henning Pätzold ist Professor für Pädagogik an der Universität Koblenz-Landau (Fachbereich Bildungswissenschaften).

Was behandelt das Buch?

Die AutorInnen Anke Grotlüschen und Henning Pätzold stellen in zwölf Kapiteln verschiedene Perspektiven auf das Thema „Lernen“ vor. In einer kurzen Einleitung ordnen sie ein, was sie unter „Lerntheorien“ verstehen, welche Fragen Lerntheorien beantworten wollen, streifen kurz das Zusammenspiel von Lerntheorien und Didaktik und bereiten darauf vor, dass sie in ihrer Umsetzung „historische und thematische Entwicklungslinien“ (S. 14) verbinden wollen.

Im ersten Kapitel („Klassische und kritische Theorien des Lernens“) nehmen sie die eingangs von mir erwähnten Theorien des Behaviorismus und Kognitivismus auf, um sie kritischen Theorien und der kulturhistorischen Schule gegenüberzustellen. Hier fallen viele große Namen wie Pawlow, Watson, Piaget und Vygotskij; nur der Name von Burrhus Frederic Skinner, dem „Vater des programmierten Lernens“, fällt überraschenderweise nicht.

Die Titel der weiteren Kapitel: 2. Subjektwissenschaftliche Lerntheorie; 3. Eklektizistische Zugänge zum Lernen; 4. Vom vernachlässigten Gefühl: emotionales Lernen; 5. Individuelles und kollektives Interesse; 6. Subjekt, Leib, Widerfahrnis und Vulnerabilität; 7. Lernen als biografischer Prozess; 8. Transformation: Lernen, Bildung, gesellschaftliche Entwicklung; 9. Situiertes Lernen in Communities of Practice; 10. Lernen aus systemtheoretischer Sicht; 11. Lernen im Prozess der Arbeit; 12. Organisationales Lernen im Kontext des Lernens Erwachsener.

Es sind sehr unterschiedliche Perspektiven auf das Thema! Mal sind es (für mich) bekannte und vertraute Konzepte und AutorInnen, mal bin ich auf neue Modelle gestoßen, wie zum Beispiel die des „transformativen Lernens“ bzw. der „transformativen Bildung“. Einige Titel tanzen etwas aus der Systematik („Eklektizistische Zugänge zum Lernen“). Doch die Vielzahl und Vielfalt der Konzepte beeindruckt, wobei Anke Grotlüschen und Henning Pätzold in ihrer Darstellung sehr offen und pragmatisch mit dem Label „Lerntheorie“ umgehen. So schreiben sie beispielsweise über die Konzepte des emotionalen Lernens, „von Theorien zu sprechen greift an dieser Stelle wohl noch zu weit“ (S. 47). Das habe ich nicht nur in diesem Kapitel und bei diesem Thema gedacht!

Sucht man einen roten Faden in der Abfolge der Kapitel und Theorien, so kann man sagen: es beginnt mit dem Subjekt bzw. der subjektwissenschaftlichen Lerntheorie (Kap. 2) und endet mit Theorien und Modellen des Lernens in Organisationen und des organisationalen Lernens (Kap. 12). Aber das liest sich jetzt stringenter als es im Buch umgesetzt wird. Die AutorInnen experimentieren an vielen Stellen, denken laut nach und gliedern Konzepte und Werke in diese Struktur ein, ohne sich heute schon über ihren Beitrag zum Thema „Lerntheorien“ wirklich sicher zu sein. Man lese zum Beispiel die Kapitel 6.4 und 6.5 über „Verletzende Diskurse des Lernens (Vulnerabilität)“.

Man kann jetzt sicher lange darüber diskutieren, ob man noch weitere Themen, Modelle und Ansätze in diesen Überblick hätte aufnehmen können. Das möchte ich gerne den ExpertInnen der Erwachsenenbildungsforschung überlassen. Mich hat mit Blick auf die laufenden Diskurse lediglich überrascht, dass kognitions- und neurowissenschaftliche Ansätze in diesem Lehrbuch überhaupt nicht auftauchen; und dass die Digitalisierung der Bildung und des Lernens nur in wenigen kurzen Sätzen behandelt werden. Zumindest das Zusammenspiel von Theorie und Praxis, von (zum Beispiel) Behaviorismus, EdTech und Silicon Valley hätte man vielleicht in ein Lehrbuch über „Lerntheorien“ aufnehmen können.

Wird Weiterbildung/ Corporate Learning im Buch direkt angesprochen?

Ja, die Kapitel 9-12 behandeln Modelle und Konzepte, die auch in Corporate Learning diskutiert werden: Communities of Practice (Kap. 9, mit ausführlichen Referenzen zu Etienne Wenger), Lernen im Prozess der Arbeit (Kap. 11, hier wird vor allem Peter Dehnbostel zitiert) sowie das organisationale Lernen (Kap. 12, mit kurzen Abstechern zum Wissensmanagement). Im 11. Kapitel wird auch auf den „Zusammenhang zwischen der Digitalisierung und dem Lernen im Prozess der Arbeit“ eingegangen.

Was hat mir am Buch gefallen?

Das Buch eignet sich hervorragend, um einen Überblick über die wichtigen und aktuellen Theorien, Modelle, Konzepte und Ansätze zu gewinnen, die in der Erwachsenen- und Weiterbildung diskutiert werden. Auch ihre Darstellung mit kurzen alltagsnahen Beispielen zum Einstieg und historischen Bezügen hat mir gefallen. Für ErwachsenenbildnerInnen ist diese Lektüre sicher ein Gewinn.

Was ich am Buch vermisst habe?

Die AutorInnen springen relativ schnell und umstandslos in die Darstellung der Lerntheorien. Gerade in einem Lehrbuch hätte ich erwartet, dass noch etwas ausführlicher über den Geltungsbereich von „Theorien“ sowie über das Verhältnis von Theorie und Praxis bzw. Theorie und Didaktik reflektiert worden wäre. Bei einem Satz wie „Der Behaviorismus eignet sich dann, wenn die Lernenden der Einsicht und Erklärung nicht mächtig sind“ (S. 23) hätte ich beispielsweise gerne eine kleine Lesehilfe gehabt, denn hier wird eine Theorie wie ein Werkzeug beschrieben … Schließlich wechseln wir nicht die Lerntheorie mit jeder Zielgruppe, sondern die Didaktik.

Auch ein oder zwei Absätze über den Arbeits- und Auswahlprozess selbst (nach welchen Kriterien wurden Lerntheorien in das Buch aufgenommen?) hätte ich gerne gelesen.

Mein generelles Fazit:

Die Lektüre hat sich gelohnt! Ich habe viele neue Stichworte kennengelernt. Und ich habe gesehen, wie ExpertInnen der Erwachsenenbildung den Stand der Theoriebildung in Corporate Learning einschätzen.