Lernen in Unternehmen. Formal, informell, selbstreguliert
Ich habe die Ostertage genutzt, um wieder einmal ein Fachbuch ganz zu lesen. Meine Wahl fiel auf „Lernen in Unternehmen“, das gerade im Hogrefe Verlag erschienen ist und über das ich auf LinkedIn in den letzten Tagen immer wieder gestolpert bin. Die Autoren sind mir nicht ganz unbekannt, da sie in letzter Zeit immer wieder über aktuelle Themen der betrieblichen Bildung publiziert haben. Timo Kortsch ist Professor für Wirtschaftspsychologie an der IU Internationale Hochschule, Julian Decius leitet das Arbeitsgebiet Organisationspsychologie im Fachbereich Wirtschaftswissenschaft an der Universität Bremen und Hilko Paulsen ist Leiter der Personal- und Organisationsentwicklung bei der Region Hannover (so der Klappentext).
Das Buch „Lernen in Unternehmen“ will einen kompletten Überblick über das arbeitsbezogene Lernen bieten, was ihm aus meiner Sicht auch gelingt. Es ist fokussiert und komprimiert (172 Seiten), sehr anschaulich, mit vielen Schaubildern und Aufstellungen, geschrieben. Die Autoren bilden im Rückgriff auf Metaanalysen und internationale Fachliteratur einen wissenschaftlichen Diskussionsstand ab, ohne sich in Details zu verlieren. Das Buch können so auch Praktiker mit Gewinn lesen, die sich kurz über einen Prozessschritt oder eine Methode in der Weiterbildung informieren wollen.
Zum Inhalt des Buches
„Lernen in Unternehmen“ ist sechs Kapitel gegliedert. Im ersten Kapitel („Lernen in Unternehmen“) wird das Feld abgesteckt: Was versteht man unter „Lernen in Unternehmen“ bzw. „arbeitsbezogenem Lernen“? Wie steht es um die Weiterbildung in Deutschland? Welchen Nutzen verspricht man sich vom arbeitsbezogenen Lernen?
Im zweiten Kapitel („Arbeitsbezogenes Lernen in Unternehmen – Modelle und Befunde“) legen die Autoren ihren Referenzrahmen bzw. ihren Blick auf das Lernen dar, in dem sie Antworten auf drei Fragen geben: Wozu wird in Unternehmen gelernt? Wie wird in Unternehmen gelernt? Wie lässt sich das Lernen in Unternehmen fördern? Die erste Frage beantworten sie mit einem Verweis auf Kompetenzen bzw. Kompetenzmanagement schnell und kurz. Bei der Antwort auf die zweite Frage – Wie wird in Unternehmen gelernt? – nehmen sie sich Zeit. Denn sie bildet den zentralen methodologischen Ordnungsrahmen ihres Buches.
Die Autoren unterscheiden zwischen formalem Lernen, informellem Lernen und selbstreguliertem Lernen. Über das „formale Lernen“ heißt es: „Formales Lernen ist eine Lernform mit hoher Strukturierung in Bezug auf den Lernkontext, die Lernunterstützung, die Lernzeit und die Lernziele.“ (S. 16) So weit, so gut. Interessanter wird die nächste Abgrenzung: „Informelles Lernen ist ein bewusster, von der lernenden Person gesteuerter Prozess, der eine Arbeitshandlung oder eine Problemlösung zum Ziel hat – im Gegensatz zum formalen und selbstregulierten Lernen, bei dem das Lernen das Ziel ist.“ (S. 17) Das klingt erst einmal plausibel. Und einige Seiten später wird weiter konkretisiert: „Im Unterschied zum formalen Lernen übernimmt die lernende Person – nicht die Lehrperson – im selbstregulierten Lernprozess die primäre Verantwortung für die Zielsetzung, die Umsetzung geeigneter Lernstrategien und die Bewertung der Lernergebnisse.“ (S. 35)
Soweit die wichtigen Abgrenzungen. Die Autoren unterfüttern vor allem das informelle Lernen noch mit weiteren Stichworten (z.B. 70-20-10-Formel, Oktagon-Modell), um anschließend sieben Lerndimensionen an die Hand zu geben, mit deren Hilfe sich Lernformen unterscheiden und einordnen lassen. Verschiedene Praxisbeispiele sollen im Anschluss verdeutlichen, wann und wo uns diese Lernformen im Arbeitsalltag begegnen – in Reinform oder als Hybride.
Die Antwort auf die dritte Frage („Wie lässt sich das Lernen in Unternehmen fördern?“) führt die Autoren zu Fragen der lernförderlichen Arbeitsgestaltung, aber vor allem zu lesenswerten Ausführungen zur Lernkultur bzw. zum Lernklima einer Organisation. Das beinhaltet auch Hinweise auf konkrete Instrumente, um die Lernkultur einer Organisation zu erheben.
Das (kurze) dritte Kapitel „Der Personalentwicklungszyklus – bei formalem, informellem und selbstreguliertem Lernen“ führt die Prozessschritte „Bedarfsanalyse“, „Planung“, „Durchführung“ und „Evaluation“ ein. Im vierten Kapitel („Vorgehen und Methoden“) werden diese Prozessschritte weiter ausgeführt. Erwähnenswert ist hier vor allem das Kapitel 4.3 („Methoden zur Förderung des Lernens“), in dem acht Methoden ausführlicher und weitere Methoden im Überblick vorgestellt werden: „In diesem Kapitel werden einige relevante Methoden detaillierter beschrieben, die die Bandbreite von Lern- und Arbeitsmethoden widerspiegeln – von eher klassischen Methoden wie Simulationen bis zu modernen Methoden wie Mobile Learning, von weniger aufwendigen wie After Action Review bis zu komplexen Großgruppenmethoden wie Barcamps …“ (S. 75)
Gerade um sich einen Überblick zu verschaffen, sind diese Seiten sehr informativ und nützlich. Allerdings konnte ich keinen „roten Faden“ entdecken: Was unter einer „Methode“ verstanden wird, wird nicht näher erläutert; kleine Methoden stehen neben großen Methoden. Und erst in der abschließenden tabellarischen Übersicht wird zwischen „klassischen“ sowie „agilen und digitalen Lern- und Arbeitsmethoden“ unterschieden. Um nicht missverstanden zu werden: Die Auflistung ist umfassend und nachvollziehbar und es war vor allem meine Neugier, die hier nach Struktur gesucht hat.
Das fünfte Kapitel des Buches versammelt neun Fallbeispiele aus der Unternehmenspraxis – von „5.1 TechUcation bei der Otto Group“ bis „5.8 Organisationale Transformation mit Lernbegleitung und Barcamps bei DATEV“. Jedes Fallbeispiel wird ausführlich vorgestellt, zum Teil mit Schaubildern oder Screenshots illustriert und abschließend in dem methodischen Rahmen des Buches zwischen formal, informell und selbstreguliert verortet.
Im abschließenden sechsten Kapitel („Fazit und Ausblick“) fassen die Autoren die Fallbeispiele zusammen und zeigen an sieben Punkten auf, „in welche Richtung sich das arbeitsbezogene Lernen in Unternehmen zukünftig entwickelt“ (S. 155). So lesen wir, dass das Lernen „partizipativer“, „differenzierter“, „individueller“, „offener“ und „experimenteller“ wird. Das Nebeneinander von formalem, informellem und selbstreguliertem Lernen, so die Autoren, bleibt bestehen.
Was mir aufgefallen ist
- Die Unterscheidung in formales, informelles und selbstreguliertes Lernen ist pragmatisch und überzeugend. Natürlich lässt sich auch darüber im Sinne von „Was ist eigentlich, wenn …?“ lange und trefflich diskutieren. Gerade bei der Einordnung der Fallbeispiele weisen die Autoren aber selbst darauf hin, „dass Lernformen in der Praxis selten in Reinform vorliegen“ (S. 124).
Vielleicht bietet sich an anderer Stelle einmal die Gelegenheit, Themen wie „Performance Support“ oder Stichworte wie „selbstorganisiert“ und „selbstgesteuert“ aufzunehmen. Im Buch fand ich es angenehm, auf solche Details und Diskussionen zu verzichten. - Es fällt auf, dass der Digitalisierung unserer Arbeits- und Lernwelten im Buch keine herausragende Rolle zufällt. Stattdessen wird relativ neutral versucht, das Spielfeld arbeitsbezogenen Lernens abzustecken. Nun darf man vermuten, dass das Buch parallel zum aktuellen Hype um Künstliche Intelligenz bzw. ChatGPT geschrieben wurde. Während wir also Anfang 2024 über die KI als „Game Changer“ in Bildung und Lernen lesen dürfen, konstatiert das Buch: „Lernen in Unternehmen verändert sich hin zu einem Mix aus digitalen und analogen Lernangeboten, die oft nach individuellen Bedürfnissen genutzt werden können.“ (S. 156) Das ist angenehm nüchtern. Oder mutig!?
- Natürlich hat das Buch auch Leerstellen. Hier also einige Themen, die ich bei der Lektüre vermisst habe oder die ich mir ausführlicher hätte vorstellen können. Auf fehlende technologische Entwicklungen wie die „Künstliche Intelligenz“ habe ich schon hingewiesen. Weitere Leerstellen bilden zum Beispiel „Future Skills“, „Lernende Organisationen“ und „Wissensmanagement“. Vielleicht hätte ein weiteres einleitendes Kapitel diese Stichworte und Diskussionen kurz aufnehmen können …Auch die Frage „Wie ist das Lernen in Unternehmen organisiert?“ (und die entsprechenden Antworten) habe ich vermisst. Das beginnt bei den Verantwortlichkeiten, Kompetenzen und Aufgaben entsprechender Bildungsbereiche. Dann die Organisation der Bildungsprozesse selbst. Und schließlich die Ressourcen, die es zur Umsetzung vieler (formaler) Lernangebote braucht. So fällt das Stichwort „Learning Management System“ kein einziges Mal.
- Wenn man das Lernen in Unternehmen beschreibt, sich am Personalentwicklungszyklus orientiert und Methoden zur Förderung des Lernens vorstellt, steht natürlich immer die organisationale Perspektive im Vordergrund. Vielleicht wäre es, auch um die Bedeutung des selbstregulierten Lernens zu unterstreichen, interessant gewesen, zumindest die Fallbeispiele um die Perspektive der Mitarbeitenden zu ergänzen: zum Beispiel durch einzelne Interviews oder eine Gruppendiskussion mit Lernenden.
Das alles ändert aber nichts an meiner Kauf- bzw. Leseempfehlung!
One Response to “Lernen in Unternehmen. Formal, informell, selbstreguliert”
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