JOCHEN ROBES ÜBER BILDUNG, LERNEN UND TRENDS

Neustart oder Reform? Die Nationale Bildungsplattform auf dem Prüfstand

Die Wikimedia Deutschland hat unter dem Titel „Werte und Strukturen der Nationalen Bildungsplattform“ (Autor:innen: Michael Seemann, Felicitas Macgilchrist, Christoph Richter, Heidrun Allert und Jürgen Geuter) eine Konzeptstudie in Auftrag gegeben und die Ergebnisse am 8. November 2022 der Öffentlichkeit vorgestellt. Man kann sich den Ergebnissen auf zwei Wegen nähern: zum einen fasst der hier verlinkte Beitrag wichtige Thesen der Studie und einer Podiumsdiskussion zusammen; zum anderen gibt es die Studie selbst, 84 Seiten, die offen zugänglich sind.

Die Studie besteht im Wesentlichen aus drei Teilen:
a) einer Analyse der Nationalen Bildungsplattform (NBP), die sich auf Technik, bildungswissenschaftliche Grundlagen und Fragen der Governance konzentriert;
b) einer bildungstheoretischen Positionierung, mit der die Autor:innen ihr Verständnis von Lernen und Bildung präsentieren (und damit die Messlatte für die NBP);
c) Handlungsempfehlungen in Form von zwei Implementierungsvorschlägen.

Einige Stichworte und Ergebnisse der Konzeptstudie:
– Ein zentraler Vorwurf der Studie: die Vorstellung der Projektträger, es handele sich bei der NBP um eine „neutrale Plattform“, um eine „pädagogisch neutrale Bildungsinfrastruktur“ (S. 42). So etwas gibt es nicht.
– Eine weitere, zentrale Herausforderung: Es existiert offensichtlich noch kein Betriebskonzept, und Fragen der Governance sind ungeklärt (S. 42ff.).
– Annahmen, die sich, so die Autor:innen, durch die Konzeptionen, Beschreibungen und Entscheidungen der NBP ziehen: die „Verkürzung des Wortes ‚Lernen‘ auf nur individuelle, kognitive, zielgerichtete Lernprozesse“ (S. 15); die „Annahme von Lernen und Bildung als datafizierbare Prozesse“ (S. 32); eine „output-orientierte Organisation von Lern- und Bildungsprozessen“ (S. 32); eine „rein output-orientierte Kompetenz- und Zertifikatslogik“ (S. 41); eine „Individualisierung“ von Lern- und Bildungsprozessen (S. 42); die „marktförmige Ausrichtung der NBP“ (S. 46).
– Schließlich: „Eine derart zentrale digitale Infrastruktur darf in einer demokratischen Gesellschaft nicht unter Ausschluss der Öffentlichkeit als rein technisches Projekt entworfen werden.“ (S. 68)

Hier noch drei Punkte, die ich ergänzen möchte: 
– Ich sehe durchaus eine Verbindung zwischen MILLA (Modulares interaktives lebensbegleitendes Lernen für alle), dem Konzept der CDU/CSU-Bundestagsfraktion aus dem Jahr 2018, und der NBP. Die Konzeptstudie, wenn ich es richtig sehe, setzt den Startpunkt für die NBP dagegen 2020.
– Im hier verlinkten Beitrag zur Präsentation der Studie wird die berechtigte Frage gestellt: „Inwieweit unterscheidet sich die Nationale Bildungsplattform von Google?“ Das ist eine grundsätzliche Frage, die mir schon bei der ersten Präsentation des Projekts in den Sinn kam. Diese Grundsatzfrage wird in der Konzeptstudie ausgelassen, die beiden Implementierungsvorschläge der Autor:innen („Neustart“ und „Reform“) sind da moderater.
– Auch die Frage, wie eine NBP die Grenze zu internationalen, offenen Bildungs- und Lernprozessen zieht, wird in der Konzeptstudie nicht thematisiert. LinkedIn Learning, Coursera, Udemy, Auslandserfahrungen … Ich vermute fast, dass diese Zielgruppe eine NBP nicht benötigt und auch nicht nutzen wird.

Bevor ich jetzt aber über das Ziel hinausschieße, noch einmal die Empfehlung, das Original in die Hand zu nehmen. Und hoffen wir, dass die Öffnung der Debatte mit diesem Aufschlag gelingt.
Sarah-Isabella Behrens und Franziska Kelch, Wikimedia Deutschland, 16. November 2022